Der Islam gehört zu Deutschland? Seehofer sagt nein, Merkel widerspricht. Doch bevor wir uns mit dem Islam beschäftigen, sollten wir uns fragen, wie stark christliche Werte unsere Kultur noch bestimmen - und ob wir uns mit ihnen identifizieren.
Das europäische Abendland ist ohne Frage stark vom Christentum geprägt: Kirchen und Klöster überragen Städte und Dörfer. Berichte von Kreuzzügen und Religionskriegen markieren unsere Geschichte, ungewöhnliche Menschen haben diese Geschichte geprägt.
Aber die Zeiten ändern sich, Kirchenaustritte gehen in die Hunderttausend, die Volkskirche löst sich auf. Gehört denn unter diesen Umständen das Christentum noch immer zu Deutschland?
Richtig ist, dass wir in einer Zeit leben, in der wir nicht mehr bereit sind, uns Ideologien anzuschließen. Es macht uns misstrauisch und ablehnend, wenn jemand mit Wahrheitsanspruch auftritt. Wir wollen es nicht mehr hören, was jemand als Rechthaber und Besserwisser verkündet.
Diese „Wahrheiten“ waren oft genug falsch und manchmal tödlich. Im Glauben an eine absolute Wahrheit haben Generationen von Menschen ihr Leben geopfert – sinnlos. Das wollen wir nicht mehr – nie mehr.
Dafür haben wir ein riesiges Ausmaß an Freiheit gewonnen – mit einer Kehrseite: Früher konnten wir uns auf Traditionen stützen und uns an Werten orientieren. Ehrwürdige Autoritäten haben uns gelehrt, wie wir handeln sollten.
Erfahrene und erprobte Könner haben sich angeboten, uns das richtige Handeln beizubringen. Aber Autoritäten werden infrage gestellt, lösen sich auf, und Können ist schnell überholt. Was bleibt uns?
Die Verantwortung, ein Wertesystem zu bauen
Jetzt müssen wir uns selber auf Werte besinnen, selber auswählen und entscheiden, selber unser Handeln an Werten orientieren. Aber welches sind diese Werte? Worin besteht das christliche Wertesystem?
Bei der Diskussion darüber, ob der Islam zu Deutschland gehört, gehen wir davon aus, dass das Christentum auf jeden Fall dazugehört. Aber ist es so? Das Christentum hat Europa geprägt, aber hat es diese prägende Kraft auch heute noch?
Im Zentrum des Christentums steht die Botschaft von Jesus von Nazareth: dass mit ihm eine neue Zeit beginnt, ein geistiges Reich des Friedens, das sich über die Welt ausbreitet; dass es um Versöhnungsbereitschaft geht: „Wenn du deine Gabe zum Altare bringst und dich erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, dann lass deine Gabe, geh hin und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe.“
Nicht um Spenden- oder Opferbereitschaft geht es, sondern zuerst um Versöhnung, darum, Spannungsfelder zu beseitigen und die Kommunikation wieder aufzunehmen; dass es um Verantwortung für die anderen geht: „Was du einem der Geringsten unter meinen Brüdern und Schwestern getan hast, das hast du mir getan“. Die Sorge um soziale und gerechte Verhältnisse ist nicht beliebig, sondern hier geht es um Zugehörigkeit oder nicht.
Die Bedeutung christlicher Feste
Diese Kernbotschaften werden durch Feste erinnert, die wir gemeinsam feiern. So bedeutet Weihnachten, dass unsere Welt eine endgültige Zusage erhalten hat, dass das Projekt Menschheit nicht scheitern wird und dass diese Zusage das grundlegende Vertrauen der Christen in die Zukunft begründet.
Karfreitag heißt, dass es das Absurde gibt, dass wir es nicht verschleiern dürfen oder verleugnen, sondern bekämpfen müssen. Ostern heißt, dass das Absurde nicht das letzte Wort ist, sondern überwunden wird, und dass die Geschichte der Menschen ausgerichtet ist auf eine Welt des Friedens, der Gerechtigkeit und der Liebe.
Diese Feste, die wir als Christen begehen und die uns das Jahr über begleiten, finden ihre Verstärkung im Leben der Einzelnen durch Rituale wie Taufe, Erstkommunion, Hochzeit und Beerdigung.
Die Taufe bedeutet, dass wir zum Christentum dazugehören, die Erstkommunion schafft die geistige Verbindung mit Jesus von Nazareth und die Identifikation mit seiner Botschaft.
Die christliche Eheschließung ist der Versuch, sich einander so zugetan zu sein, dass aus dieser Fülle der Hingabe neues Leben entsteht. Beerdigung verlangt, sich vom Bisherigen zu verabschieden, um einzugehen in die Unendlichkeit Gottes.
Was gibt dem Christentum seine prägende Kraft?
Das Christentum gehört nur dann zu Deutschland, wenn wir um es wissen, es verstehen, uns mit ihm identifizieren. Wenn dies nicht gelingt, wird es seine prägende Kraft verlieren. An seine Stelle werden andere Botschaften treten, solche, die bereit sind, Menschen zu opfern, wenn sie nicht konform gehen; solche, die die Nation oder das Vaterland als Götzendienst aufbauen; solche, die sich im geistlosen Verneinen erschöpfen; solche, die sich in operativer Geschäftigkeit verbrauchen.
Im Jahr 2002 erschien das Buch „Kampf der Kulturen“ von Samuel Huntington. Zu diesem Anlass fragte ein islamischer Geistlicher seine christlichen Gesprächsteilnehmer: „Mit wem sollen wir denn kämpfen, wofür steht ihr denn? Ihr verrichtet eure Gebete nicht, feiert eure Feste nicht und haltet eure Fastengebote nicht ein. Ihr achtet eure Frauen nicht und schützt nicht eure Familien.“
„Kampf der Kulturen“ meint ja die Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Überzeugungen, die sich dadurch weiterentwickeln, dass sie sich miteinander beschäftigen.
Bevor es darum geht, ob der Islam zu Deutschland gehört, sollten wir klären, ob das Christentum auch heute noch dazu gehört, um dann zu fragen, was beide in der Beschäftigung miteinander voneinander lernen können.
Der Autor ist Gründer seines eigenen Instituts „Geiselhart Seminare" und BILANZ-Kolumnist.
Dieser Artikel wurde ursprünglich am 20.04.18 auf Bilanz veröffentlicht.
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