An Weihnachten ist Besinnung angebracht. Das heißt, Suche nach Orientierung und nach Sinn. Drei große Denker können dabei helfen - und vor allem die Weihnachtsbotschaft selbst.
Wenn die Tage dunkler und die Nächte länger werden, wenn der Termindruck und die Hektik nachlassen, dann fällt es leichter nachzudenken. Darüber, warum wir so und nicht anders handeln, und was der Sinn unseres Tuns ist.
Warum sollten wir uns besinnen? Zunächst einmal, weil wir fast nicht anders können, da wir dazu über neurologische Grundlagen verfügen. Beide Gehirnhälften sind mit einem Balken aus Nervenzellen verbunden. Dadurch kann das Gehirn unsere Handlungen in einen übergeordneten Zusammenhang bringen. Dies gelingt nicht mehr, wenn dieser Balken durchtrennt wird. Unter bestimmten Bedingungen ist das bei epileptischen Anfällen erforderlich. Diese Split-Brain-Patienten unternehmen große Anstrengungen, um dieses Defizit zu kompensieren und doch noch einen Zusammenhang herzustellen. Wenn wir uns keine Zeit zur Besinnung nehmen, dann rauben wir uns selbst etwas Grundlegendes.
Besinnung ist nicht beliebig. Sich besinnen heißt auch sich zu orientieren, also nach einer Richtung und nach Zielen zu suchen. Heute ist das wichtiger denn je. Früher haben uns Kirche, Partei und Tradition diese Aufgabe abgenommen. Heute sind wir damit ganz auf uns selbst verwiesen. Schließlich haben wir gelernt, „uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen.“
Gelingt es uns nicht, Orientierung zu finden, werden wir Aufgaben nicht meistern, Krisen nicht bestehen und stattdessen unkritisch Modeerscheinungen nachlaufen.
Das neoliberale Konzept, die Heilslehre unserer Zeit, unterwirft viele gesellschaftliche Bereiche der Dominanz des Marktes. Da Leidenschaften das Marktgeschehen stören, werden sie neu bewertet. Liebe wird zu Sex, Erotik zu Profit und Leidenschaften zu Interessen. An die Stelle des Gemeinwohls tritt der individuelle Nutzen. Soziale Beziehungen werden als Wettbewerbsverhältnisse gesehen. Die Bildung der eigenen Persönlichkeit wird zu einer unternehmerischen Aktivität. Dies schließt auch die Beziehung zum eigenen Körper ein, so dass Krankheit zum Zeichen defizitärer Selbstführung wird.
Das neoliberale Denken blendet Widersprüche aus und nimmt Emotionen zurück. Die passive Seite menschlicher Existenz dominiert immer mehr. Der Persönlichkeitstypus unserer Zeit ist das domestizierte Subjekt.
Viele Menschen suchen inzwischen in ihrem Beruf und im Unternehmen nach Sinn, sie erwarten dort Orientierung, weil sie sie anderswo nicht mehr finden. Damit kommt auf Führungskräfte eine besondere Aufgabe zu. Irgendwie sind sie ja noch immer Vorbilder, mit denen man sich identifizieren möchte. Die gemeinsame Erarbeitung von Visionen und Strategien erhält dadurch eine ganz besondere Bedeutung. Vereinbarte Führungsleitlinien, Werte und ausgehandelte Regeln sollen Führungskräfte nicht nur bei Reden vor Weihnachten, sondern in ihrer Person und ihrem Verhalten so vorleben, dass Mitarbeiter an ihnen erkennen können, was gemeint ist. Dabei geht es nicht um Perfektion - Fehler und Schwächen werden gern verziehen. Aber Widersprüche verwirren und lassen zweifeln.
Um Vorbild zu sein, brauchen Führungskräfte selber Vorbilder, die ihnen Orientierung geben.
Emanuel Lévinas und die Zuwendung zum Anderen
Für Emmanuel Lévinas sind westliche Philosophie und Tradition allzu sehr davon geprägt, die Beschäftigung mit sich selbst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen. Es geht uns immer um Selbstverwirklichung, um die Entfaltung der eigenen Person, um die eigene Wirkung auf andere, um Selbsterfahrung. Diese Zentrierung auf das eigene Ich, ist nach Lévinas die Ursache für viele Spannungen und Aggressionen, für Blockierungen und unsinnigen Energieverbrauch, letztlich für die großen Katastrophen der menschlichen Geschichte.
Lévinas empfiehlt die entschlossene Zuwendung zum Anderen. Er sagt, dass alles, was wir für uns tun und was wir selbst haben wollen, uns ohnehin genommen wird, weil wir alle ja nur „Gast auf Erden“ sind. Stattdessen sollen wir uns der Frage stellen: „Wo ist dein Bruder Abel?“ Was kann ich für den anderen tun? Diesen Weg von der Fixierung auf sich bis zur entschlossenen Zuwendung zum Anderen, den ist Oskar Schindler gegangen. Zu Beginn des Films „Schindlers Liste“ legt er sich auf das Bett, breitet die Arme aus und stellt fest: „Alles für mich“. Doch am Ende erkennt er: „Ich habe nicht genug getan.“
Jacques Lacan und der Mensch als Pilger
Der Psychoanalytiker Jacques Lacan definiert das Wesen des Menschen als das eines Pilgers, der von der Ebene des Bedürfnisses, wo alle nur für ihn da sein müssen, durch die Wüste geht, den Mangel kennt und den Verzicht leistet bis er zur Ebene des Verlangens kommt. Dort lernt er, dass er deswegen nach dem Anderen verlangt, weil dieser anders ist als er, weil dieser etwas hat, was er nicht hat, weil er den Anderen gerade in diesem Anderssein bejahen, ihn lieben kann, weil er ihn nicht mehr zu besitzen braucht.
Auch diese Botschaft finden wir in einem berühmten Film: „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Der Reporter, der gezwungen ist, den immer gleichen Tag immer wieder zu durchleben, muss den Weg durch den Regen gehen und lernen, was mit Liebe gemeint ist, erkennen, dass es um den Anderen geht und um den Respekt vor dessen Anderssein.
Teilhard de Chardin und der Sinn der Evolution
Pierre Teilhard de Chardin beschreibt die Evolution als einen von einer Kraft getriebenen Prozess, der von der Materie über das Leben bis zum Geist führt, also zu immer mehr Komplexität. Im menschlichen Großhirn, von der Evolution hervorgebracht, erkennt die Evolution sich selbst, wird sich ihres Anliegens bewusst, nämlich Komplexität zu erzeugen und Geist hervorzubringen. Von jetzt an, mit der Entstehung des Geistes auf der Basis des menschlichen Großhirns, wird die Weiterführung der Evolution in die Verantwortung des Menschen gelegt. Von jetzt an kann jeder sich daran beteiligen, mehr Geist hervorzubringen, bessere Gespräche, offenere Diskussionen, friedlichere Atmosphäre, gerechtere Entscheidungen, und letztlich mehr Liebe.
Teilhards Botschaft: Es liegt ein Sinn in der Evolution. Er besteht darin, mehr Geist hervorzubringen, jeder an seiner Stelle, und Verantwortung zu tragen.
Weihnachten
Weihnachten ist ein Fest, dem sich zu entziehen schwerfällt. Trotz Zeitdruck, Konsumpflicht und Traditionsroutine behält es etwas Besinnliches.
In unserem christlichen Kontext bedeutet Weihnachten die Zusage, dass es mit dieser Welt nicht mehr schiefgehen kann, dass die Menschheit nicht mehr grundsätzlich scheitern kann. Weihnachten begründet einen unerschütterlichen Optimismus.
Aber dieser Optimismus ist nicht naiv. Wenn von Sünde die Rede ist, dann meint dies, dass etwas geschehen ist, was so nicht vorgesehen war, ein Unglück, das uns alle betrifft und das mit uns allen zu tun hat. Dieser Optimismus ist nicht blind.
Das zentrale Zeichen im Christentum ist das Kreuz. Es bedeutet, dass es in dieser Welt das Absurde gibt – das unheimlich Absurde. Aber nach Karfreitag feiern wir Ostern mit der Botschaft, dass das Absurde nicht das letzte Wort ist, dass am Ende nicht das Unsinnige steht, sondern dass geheilt wird, was krank ist, und dass es eine geistige Kraft gibt, die stärker ist. Dieser Gedanke taucht auch in einem Lied von Leonard Cohen auf, wo es heißt,
There is a crack
in everything
That's how the light
gets in
Der Autor ist Gründer seines eigenen Instituts „Geiselhart Seminare" und WirtschaftsWoche-Kolumnist.
Dieser Artikel wurde ursprünglich am 24.12.13 auf WirtschaftsWoche veröffentlicht.
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